Der erste Zyklus
- Manuel Müller
- 5. Dez. 2019
- 10 Min. Lesezeit
So, jetzt ist es also so weit. Am Morgen des 9. September 2019 fahren wir ins Klinikum Ludwigsburg, um meinen ersten Zyklus der Chemotherapie zu starten. Mittlerweile bin ich echt aufgeregt. Angst hab ich nicht wirklich, aber sehr großen Respekt, weil ich einfach keine Ahnung habe, was auf mich zu kommt.
Im Krankenhaus angekommen, wird erst mal Blut abgenommen. Mir wird gesagt, dass ich gegen 10 Uhr in den OP komme, um mir meinen Zugang zu legen. [ Hier handelt es sich um einen sog. ZVK (Zentraler Venenkatheter). Wird in steriler Umgebung und von Anästhesisten gelegt. Kleine Punktion am Hals, Katheter wird mithilfe eines Drahtes, über eine Vene, bis kurz vors Herz "geschoben".] .
Jetzt hab ich das erste Mal ein bisschen Schiss. Keiner hat mich aufgeklärt, was genau da jetzt gemacht wird. Ich weiß nur, dass ich den OP komme. Was genau da aber gemacht wird, weiß ich zu dem Zeitpunkt nicht. Zum Glück habe ich eine ganz tolle Anästhesistin, der mein Unwohlsein sofort auffällt. "Sie haben keine Ahnung, was wir jetzt machen, oder?"
Also hat sie mir alles ganz genau erklärt. Leider erwähnt sie auch in jedem zweiten Satz, wie unangenehm es werden wird. Egal, kriegen wir schon hin.
"Sie bekommen jetzt von uns ein Medikament. Das lässt sie ganz angenehm weg dämmern."
Leider hat bei mir dieser "Schlummerschlaf", den man bei kleineren Operationen gerne bekommt, noch nie funktioniert. Selbst die dreifache (!) Dosis bleibt wirkungslos.
"Sie vertragen auch einen Stiefel oder?".
Ende vom Lied: Ich werde nur örtlich betäubt und nach 5-10 Minuten liegt der ZVK. Ich hab es mir wirklich schlimmer vorgestellt. Das Gefühl, wie der Draht vom Hals ans Herz runter geschoben wird, ist zwar alles andere als angenehm, aber schmerzhaft ist es auch nicht.
Trotzdem muss ich mich an den Zugang erst noch gewöhnen. Der nervt echt. Man kommt automatisch in so eine Schonhaltung, weil dir halt was im Hals steckt. Egal, jetzt bin ich so weit vorbereitet.
Bevor die eigentliche Therapie aber startet, muss ich noch meine Lungenfunktion testen lassen. Der Test ist auch nichts, worauf ich größer eingehen möchte. Man pustet in ein Gerät und analysiert dann die Funktion. Bei mir altem Trompeter ist natürlich alles super.
Gegen 14 Uhr startet dann meine Behandlung. Jetzt geht es tatsächlich los. Irgendwie ein komisches Gefühl. Meine Freundin und meine Mama sind da, keiner weiß so genau, was er sagen soll. Ich schaue den Ständer an, an dem meine Medikamente hängen, Mama fragt mich, was mir durch den Kopf geht. In dem Moment denke ich an Lance Armstrong. Der hat sich auch einer Chemo unterzogen und danach etliche Male die Tour de France gewonnen. Das hab ich zwar nicht vor, aber trotzdem geben solche Beispiele Kraft und Zuversicht. Das Ganze ist halt wirklich eine Fahrt ins Blaue. Ich hab absolut keine Ahnung, was mit mir passieren wird. Wie reagiert mein Körper? Wird mir schlecht und ich verbringe meine Zeit hier über dem Klo? Werd ich nur müde? Fallen mir heute noch die Haare aus? Fallen sie mir gar nicht aus? Werd ich arg schwach? Keine Ahnung. Das kann mir leider auch kein Arzt sagen, weil einfach jeder Mensch anders reagiert.
Der Stationsarzt gibt mir einen Therapieplan, dass ich selber auch einen Überblick habe, was gerade so in mich rein läuft. Der Plan sieht jeden Zyklus gleich aus (s. Bild unten).
Montags gibt es 3 Chemo-Medikamente (fett gedruckt), dazwischen Medikamente für Magenschutz/Übelkeit, sowie eine Vor- bzw eine Nachspülung. Dienstag bis Freitag bekomme ich nur noch 2 Chemos. Jeden Tag laufen also zwischen 3,1 und 4,1 Liter in mich rein. Dazu soll ich viel trinken. Ihr könnt euch vorstellen, dass ich viel Zeit auf der Toilette verbringe...
Am Abend bekomme ich noch Besuch von der Krankenhaus-Seelsorge. Die besuchen alle Krebspatienten. Das sind super liebe Menschen, aber ich persönlich kann mit der Seelsorge an sich überhaupt nichts anfangen. Irgendwie hat mir die gute Frau eher das Gefühl gegeben, dass ich totkrank bin und bald sterben werde, oder dass ich den Rest meines Lebens leiden werde. Es gibt ganz bestimmt Menschen, denen das gut tut, aber auf eine solche Art bemitleidet zu werden, kann ich jetzt wirklich gar nicht gebrauchen. Ich lehne also das Angebot, dass sie mich öfters besuchen kommen, dankend ab.
So geht der erste Tag langsam zu Ende und die Nacht bricht ein. Ich bin echt platt. Ich konnte letzte Nacht kaum schlafen und heute war auch anstrengend. Ich werd schlafen wie ein Stein. Pustekuchen. Ich hab meinen Zimmernachbarn unterschätzt. Ich habe wirklich noch nie jemanden so laut schnarchen hören! Der hat fast den Hubschrauber übertönt, der direkt vor meinem Zimmer seinen Landeplatz hat! Irgendwann siegt dann aber doch die Müdigkeit und ich schlafe ein.
Am nächsten Morgen wird mir dann erst mal Blut abgenommen, um zu checken, ob die Chemo irgendwas beeinträchtigt. Anschließend muss ich auf die Waage. Ich hab über nacht 4 Kilo zugenommen! Alles Flüssigkeit. Dass ich zunehmen werde war ja klar, aber 4 Kilo über Nacht (!) find ich verrückt.
Mit der Zeit pendelt sich alles ein und mein "Unwohlsein" legt sich. Wenn ich nicht gerade Besuch habe, vertreibe ich mir die meiste Zeit mit Netflix bzw. Love Island. Ja, ich liebe trash-TV. Verurteilt mich nicht.
Abends bekomm ich dann eine Tablette, zum Wasser lassen, dass die ganze Flüssigkeit wieder raus kommt. Ergo gehe ich gefühlt jede Stunde aufs Klo. Nachts. Wenn ich eigentlich schlafen will.
Bisher geht es mir echt gut. Im Prinzip merke ich gar nichts. Nur, dass ich ständig pinkeln muss und dass meine Beine schwer werden. Das sind aber die Wasserablagerungen. Also nichts schlimmes.
Am Mittwoch spüre ich das erste mal einen Hauch von Übelkeit. Mein Appetit geht auch stark zurück. Abends wird die Übelkeit stärker. Poah ne, gehts jetzt los oder was? Ich nehme eine Tablette und schlafe relativ bald ein.
Seit Donnerstag Morgen versuche ich wieder täglich kurz zu meditieren, was mir eindeutig gut tut. Ich fühl mich danach einfach ruhiger und zugleich fitter. Das wichtigste ist für mich aber, dass ich echt sehr viel Besuch bekomme. So bin ich eigentlich nie auf meinem Zimmer. Ich bin ständig unterwegs. Das ist wichtig für meinen Kreislauf und so komme ich erst gar nicht in diesen Trott, in den viele Patienten kommen, wenn sie ein paar Tage ununterbrochen im Bett liegen.
Alles in allem kann ich mich echt nicht beklagen. Mir geht es soweit tatsächlich super. Fast schon zu gut, wie ich finde. Im Prinzip fühlt es sich an, wie ein stärkerer Kater. Also nichts Ungewohntes.. Nach Malle geht's mir eindeutig schlechter. Meine Haare sind auch noch alle da, also absolut kein Grund zur Sorge. Wenn das alles ist, wird das echt easy.
Am Freitagabend wird mir endlich der lästige ZVK gezogen. Die Schwester sagt mir wieder dass das sehr unangenehm wird. Aber wirklich, das unangenehmste ist, das Pflaster abzumachen. Wie der Katheter gezogen wird, spüre ich gar nicht.
Jetzt muss ich nur noch eine Nacht da bleiben! Morgen geht's heim. Die erste Woche ist geschafft, geil man!
Samstagmorgen bei der Visite frage ich den Arzt, ob ich heute Bier trinken darf, weil VfB spielt ja.. und danach ist Bundesliga.. und meine Kumpels kommen zu Besuch..
"Gar kein Problem Herr Müller, aber übertreiben ses bitte nicht."
Auf meinem Entlassbrief stehen auf der Rückseite meine Blutwerte. Der Arzt erklärt mir, dass meine Werte fast alle im Normbereich sind! Mega gut, das ist auch nicht selbstverständlich.
So verlasse ich mit guter Laune und ein bisschen Stolz das Krankenhaus und freue mich auf einen Fußballtag zu Hause.
Mit meinen Jungs bestelle ich dann pünktlich zum VfB eine fette Pizza. Die hab ich mir verdient. "Krass du siehst voll normal aus man! Wahrscheinlich ist das eher eine Kur für deinen Körper!", sagt ein Kumpel von mir. Naja, ganz so fit bin ich dann auch nicht mehr. Nachmittags muss ich nämlich erst mal ein Schläfchen halten. An dem Samstag geht bei mir nicht mehr viel. Bin dann doch platter als gedacht und gehe früh ins Bett.
Der Sonntag wird ein Tag, den ich nie wieder in meinem Leben vergessen werde. Ich bin aufgewacht und habe mich super gefühlt. Aber ich hatte brutal Bock auf was Fettiges. Ab zu Burger King! Da hab ich mir richtig gegönnt. Generell bin ich gerade ziemlich in Gönner-Laune. Immer nach dem "Das-hab-ich-mir-verdient-Prinzip". Also genehmige ich mir ein fettes Menü + Chili-Cheese-Nuggets + Eis zum Nachtisch. War das geil.
Ich saß keine zwei Minuten im Auto, da fangen meine Finger an zu vibrieren. Als wären tausend Ameisen unter meiner Haut. Kurz darauf wird mir kotzübel. "Johanna. Halt sofort an, ich muss kotzen."
Sie hält an, ich steige aus und will anfangen.. Da merke ich: Wenn ich jetzt kotze, dann kommt hinten auch was raus. Ich, mit der Situation komplett überfordert, steige wieder ins Auto und sage ihr, dass sie schnell heimfahren muss. Zu dem Zeitpunkt ist mir so schlecht, wie noch nie in meinem Leben. Ich fühle mich wie in der Hauptrolle von Stranger Things. Irgendwas Böses sitzt in mir und will raus. Es hat sich nur noch nicht entschieden aus welcher Körperöffnung.
Plötzlich fange ich an zu schwitzen. Ich wusste nicht, dass ein Mensch so schwitzen kann. Innerhalb von Sekunden ist mein Körper klatschnass. Als käme ich frisch aus der Dusche. Man kann zuschauen, wie mir der Schweiß am ganzen Körper herunterläuft. Ich werde immer schwächer und sage, dass ich gleich umkippe. Was zur Hölle passiert da gerade?! Johanna bekommt leicht Panik und will mich ins Krankenhaus fahren. Ich lehne ab, sage ihr, sie soll mich erst mal heimfahren. Ich versuche, wie so eine Schwangere, gleichmäßig zu atmen und ruhig zu bleiben. Auf dem Heimweg fühlt sich jeder Gullideckel an, wie ein Erdbeben der Stärke 8.
Zuhause angekommen, kämpfe ich mich aufs Klo und verbringe da die nächste viertel Stunde. Bis halt alles raus ist. Danach bin ich fertig mit der Welt. Ich bin immer noch komplett nass geschwitzt, friere jetzt aber. Ich lege mich hin. Eine halbe Stunde später geht es mir wieder gut. Als wär nichts gewesen. Was ist mit mir passiert?! So was habe ich wirklich noch nie erlebt. Innerhalb einer Stunde bin ich gefühlt durch die Hölle gegangen. Am nächsten Tag können wir aber darüber lachen. Ist ja auch irgendwie ein bisschen lustig.
Am Montag geht es dann schon wieder ins Krankenhaus, zur ersten ambulanten Behandlung. Wieder startet alles mit einer Blutabnahme, um zu checken, ob meine Werte ok sind. Ansonsten gibt es heute leider keine Chemo für mich. Meine Werte sind aber natürlich wie immer super. Das Behandlungszimmer sieht genau so aus, wie man es sich vorstellt bzw aus diversen Filmen kennt. Ein paar bequeme Sessel/Liegestühle, nette Pfleger und viele Kranke, die aber trotzdem alle erstaunlich gut drauf sind! Die meisten unterhalten sich, erzählen ihre Geschichten und geben sich untereinander Tipps. Alles in allem eine recht angenehme Stimmung dort.
Zur ambulanten Therapie bekomm ich immer nur ein Medikament, plus Vor- bzw. Nachspülung. Nach 45 Minuten ist das erledigt und ich fahre wieder nach Hause.
Am Abend wollte ich eigentlich ins Kino, aber ich bin dann doch zu müde und gehe wieder früh ins Bett.
Ab Mittwoch fühle ich mich wieder komplett fit. Als wäre nichts gewesen. Abends bekomme ich Besuch von einem Kollegen. Wir sitzen stundenlang draußen, trinken Bier und reden über Gott und die Welt.
Ich achte darauf, jeden Tag an die frische Luft zu gehen und mich zu bewegen. Wir haben extra den Hund von Johannas Eltern zu uns geholt, dass ich quasi gezwungen bin, jeden Tag raus zu gehen. Das tut mir definitiv gut.
Die Woche drauf fahre ich mir Dienstags auf dem Sofa durch die Haare... Scheiße.
Jetzt gehts los. Meine Haare fallen aus. Noch nicht so arg, als dass man was davon sehen würde, aber sie fallen aus. Ich warte aber noch mit abrasieren. Das ist ja irgendwie ein großer Schritt. Meine Haare sind mir wichtig. Ich bin stolz auf die!
Ich habe sogar mit meiner Freundin um eine Kiste Bier gewettet, dass sie mir nicht ausfallen. Die Wette hab ich dann leider verloren.
2 Tage später fallen sie mir dann büschelweise aus und ich komme zu dem Entschluss, dass ich sie mir lieber selber abrasiere, bevor ich aussehe, wie ein gerupftes Huhn.
Letztendlich ist auch das nicht so schlimm, wie erwartet. Ich hatte zwar mega Schiss vor dem Moment, aber es geht mir ansonsten so unfassbar gut, dass ich das gerne in Kauf nehme. Außerdem kann ich so mal Frisuren ausprobieren, die ich mich sonst nie getraut habe, wie z.B. den Hipster-Zopf mit abrasierten Seiten, oder den klassischen Boxer-Schnitt.
Steht mir leider alles nicht so wirklich. Selbst wenn, die Haare müssen ja eh ab. Am Ende nehme ich den Rasierer, stelle ihn auf 1mm und Ratschhh, alles weg.
"Krass, irgendwie gar nicht mal schlecht. Gefällt mir."
Am nächsten Tag wird der Haarausfall aber noch stärker und ich lasse mir von Johanna den Kopf nass rasieren. Jetzt hab ich eine richtige Glatze. Das ist dann schon heftig und fühlt sich unfassbar falsch an. Wenn man sich mit der flachen Hand auf den Kopf tätschelt und es macht einfach Klatsch-Geräusche... Das ist so merkwürdig. (s. Video)
Aber wie gesagt, es geht mir so gut, dass ich wegen den Haaren wirklich nicht jammern will.
In der Zwischenzeit fange ich sogar an Sport zu machen und komme Donnerstags auf die Idee am Samstag mit Freunden kicken zu gehen. Klar bin ich nicht in topform, aber den ein oder anderen Tunnel konnte ich schon verteilen und darauf kommt es ja an..
Also beschließe ich, meinem Coach zu schreiben, dass ich am Sonntag im Kader stehen will. Ich fühle mich fit und will unbedingt kicken.
Er willigt ein und nimmt mich in den Kader auf.
Samstag Abend fängt dann auch noch mein "Bart" an auszufallen ("Bart", weil ich nie in den Genuss eines vernünftigen Bartes kommen durfte). Ich kann ihn mir einfach auszupfen. Also rasier ich den auch noch ab. Jetzt seh ich langsam echt ein bisschen krank aus. Aber egal.
Am Sonntag wache ich hoch motiviert auf und freue mich mega auf das Spiel. Ich stehe wider Erwarten in der Startelf und hab richtig Bock. Ich habe ein großes Ziel: Ich will unbedingt ein Kopfballtor machen. Dass der Ball richtig schön von der Glatze aus ins Tor klatscht. Wer mich kennt weiß, dass ich gefühlt ein Tor pro Schaltjahr schieße. Deshalb ist das schon ein gewagtes Ziel. Ich bekomme aber tatsächlich meine Chance, komme nach einem Eckball zum Kopfball... und treffe die Latte. Meine Güte, das wär ein Fest gewesen. Am Ende spielen wir unentschieden.
Ich spiele die kompletten 90 Minuten durch und bin am Ende komplett ausgepowert. Es war aber trotzdem mega geil. Am Ende sitzen wir noch zusammen, trinken Bier und unterhalten uns. Das lieb ich ja so sehr an der Kreisliga.
Ich fahre hoch zufrieden nach Hause und gehe direkt ins Bett. Morgen startet ja schon der zweite Zyklus.
Aufgeregt bin ich überhaupt nicht mehr. Ich hab den ersten Zyklus so gut weg gesteckt. Das wird jetzt sicher auch so weitergehen.

Therapieplan Tag 1:
Bleomycin, Cisplatin, Etoposid = Chemo-
Medikamente

Der Killerpilz

Der Komische

Zöpfle

Der Perkinspark-Stammkunde

Who wore it better?


1mm

Das Klatsch-Geräusch
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